Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe (22)(In Jena in Schillers Garten; Diskurs über den Kuckuck; vordarwinsche Thesen zur Brutpflege.
Zum Verhältnis Goethe − Schiller s. a. das vorangehende Gespräch vom 7. Oktober 1827.)
(Band 3)
Jena, Montag, den 8. Oktober 1827.
Wir standen frühzeitig auf. Während dem Ankleiden1) erzählte Goethe mir einen Traum der vorigen Nacht, wo er sich nach Göttingen versetzt gesehen und mit dortigen Professoren seiner Bekanntschaft allerlei gute Unterhaltung gehabt. Wir tranken einige Tassen Kaffee und fuhren sodann an dem Gebäude vor, welches die naturwissenschaftlichen Sammlungen enthält. Wir besahen das anatomische Kabinett, allerlei Skelette von Tieren und Urtieren, auch Skelette von Menschen früher Jahrhunderte, bei welchen Goethe die Bemerkung machte, dass ihre Zähne eine sehr moralische Rasse andeuteten. Er ließ sich darauf nach der Sternwarte fahren, wo Herr Doktor Schrön uns die bedeutendsten Instrumente vorzeigte und erklärte. Auch das anstoßende meteorologische Kabinett ward mit besonderem Interesse betrachtet, und Goethe lobte Herrn Doktor Schrön wegen der in allen diesen Dingen herrschenden großen Ordnung.
Wir gingen sodann in den Garten hinab, wo Goethe auf einem Steintisch in einer Laube ein kleines Frühstück hatte arrangieren lassen. »Sie wissen wohl kaum, sagte er, an welcher merkwürdigen Stelle wir uns eigentlich befinden. Hier hat Schiller gewohnt. In dieser Laube, auf diesen jetzt fast zusammengebrochenen Bänken, haben wir oft an diesem alten Steintisch gesessen und manches gute und große Wort miteinander gewechselt. Er war damals noch in den Dreißigen, ich selber noch in den Vierzigen, beide noch im vollesten Aufstreben, und es war etwas. Das geht alles hin und vorüber; ich bin auch nicht mehr der ich gewesen, aber die alte Erde hält stich und Luft und Wasser und Boden sind noch immer dieselbigen.« »Gehen Sie doch nachher einmal mit Schrön hinauf und lassen sich von ihm in der Mansarde die Zimmer zeigen, die Schiller bewohnt hat.« Wir ließen uns indes in dieser anmutigen Luft und an diesem guten Orte das Frühstück sehr wohl schmecken. Schiller war dabei wenigstens in unserm Geiste gegenwärtig und Goethe widmete ihm noch manches gute Wort eines liebevollen Andenkens. Ich ging darauf mit Schrön in die Mansarde und genoss aus Schillers Fenstern die herrlichste Aussicht. Die Richtung war ganz nach Süden, sodass man stundenweit den schönen Strom, durch Gebüsch und Krümmungen unterbrochen, heranfließen sah. Auch hatte man einen weiten Horizont. Der Aufgang und Untergang der Planeten war von hier aus herrlich zu beobachten und man musste sich sagen, dass dies Lokal durchaus günstig sei um das Astronomische und Astrologische im Wallenstein zu dichten. Ich ging wieder zu Goethe hinab, der zu Herrn Hofrat Döbereiner fahren ließ, den er sehr hoch schätzt und der ihm einige neue chemische Experimente zeigte. Es war indes Mittag geworden. Wir saßen wieder im Wagen. »Ich dächte, sagte Goethe, wir führen nicht zu Tisch nach dem Bären, sondern genössen den herrlichen Tag im Freien. Ich dächte wir gingen nach Burgau. Wein haben wir bei uns und dort finden wir auf jeden Fall einen guten Fisch, den man entweder sieden oder braten mag.« Wir taten so und es war gar herrlich. Wir fuhren an den Ufern der Saale hinauf, an Gebüschen und Krümmungen vorbei, den anmutigsten Weg, wie ich ihn vorhin aus Schillers Mansarde gesehen. Wir waren sehr bald in Burgau. Wir stiegen an dem kleinen Gasthofe ab, nahe am Fluss und an der Brücke, wo es hinüber nach Lobeda geht, welches Städtchen wir über Wiesen hin nahe vor Augen hatten. In dem kleinen Gasthofe war es so wie Goethe gesagt. Die Wirtin entschuldigte dass sie auf nichts eingerichtet sei, dass es uns aber an einer Suppe und an einem guten Fisch nicht fehlen solle. Wir promenierten indes im Sonnenschein auf der Brücke hin und her und freuten uns des Flusses, der durch Flößer belebt war, die auf zusammengebundenen fichtenen Bohlen von Zeit zu Zeit unter der Brücke hinglitten und bei ihrem mühsamen nassen Geschäft überaus heiter und laut waren. Wir aßen unsern Fisch im Freien und blieben sodann noch bei einer Flasche Wein sitzen und hatten allerlei gute Unterhaltung. Ein kleiner Falke flog vorbei, der in seinem Flug und seiner Gestalt große Ähnlichkeit mit dem Kuckuck hatte.
»Es gab eine Zeit, sagte Goethe, wo das Studium der Naturgeschichte noch so weit zurück war, dass man die Meinung allgemein verbreitet fand, der Kuckuck sei nur im Sommer ein Kuckuck, im Winter aber ein Raubvogel.« Diese Ansicht, erwiderte ich, existiert im Volke auch jetzt noch. Ja man dichtet dem guten Vogel auch an, dass, sobald er völlig ausgewachsen sei, er seine eigenen Eltern verschlucke. Und so gebraucht man ihn denn als ein Gleichnis des schändlichsten Undanks. Ich kenne noch im gegenwärtigen Augenblick Leute, die sich diese Absurditäten durchaus nicht wollen ausreden lassen und die daran so fest hängen wie an irgendeinem Artikel ihres christlichen Glaubens. »Soviel ich weiß, sagte Goethe, klassifiziert man den Kuckuck zu den Spechten.« Man tut so mitunter, erwiderte ich, wahrscheinlich aus dem Grunde weil zwei Zehen seiner schwachen Füße eine Richtung nach hinten haben. Ich möchte ihn aber nicht dahin stellen. Er hat für die Lebensart der Spechte so wenig den starken Schnabel, der fähig wäre irgendeine abgestorbene Baumrinde zu brechen, als die scharfen sehr starken Schwanzfedern, die geeignet wären ihn bei einer solchen Operation zu stützen. Auch fehlen seinen Zehen die zum Anhalten nötigen scharfen Krallen, und ich halte daher seine kleinen Füße nicht für wirkliche Kletterfüße, sondern nur für scheinbare. »Die Herren Ornithologen, versetzte Goethe, sind wahrscheinlich froh, wenn sie irgendeinen eigentümlichen Vogel nur einigermaßen schicklich untergebracht haben; wogegen aber die Natur ihr freies Spiel treibt und sich um die von beschränkten Menschen gemachten Fächer wenig kümmert.« So wird die Nachtigall, fuhr ich fort, zu den Grasmücken gezählt, während sie in der Energie ihres Naturells, ihren Bewegungen und ihrer Lebensweise weit mehr Ähnlichkeit mit den Drosseln hat. Aber auch zu den Drosseln möchte ich sie nicht zählen. Sie ist ein Vogel der zwischen beiden steht, ein Vogel für sich, so wie auch der Kuckuck ein Vogel für sich ist, mit so scharf ausgesprochener Individualität wie einer. »Alles was ich über den Kuckuck gehört habe, sagte Goethe, gibt mir für diesen merkwürdigen Vogel ein großes Interesse. Er ist eine höchst problematische Natur, ein offenbares Geheimnis; das aber nichts destoweniger schwer zu lösen, weil es so offenbar ist. Und bei wie vielen Dingen finden wir uns nicht in demselbigen Falle! - Wir stecken in lauter Wundern und das letzte und beste der Dinge ist uns verschlossen. Nehmen wir nur die Bienen. Wir sehen sie nach Honig fliegen, stundenweit, und zwar immer einmal in einer anderen Richtung. Jetzt fliegen sie wochenlang westlich nach einem Felde von blühendem Rübsamen. Dann ebenso lange nördlich nach blühender Heide. Dann wieder in einer anderen Richtung nach der Blüte des Buchweizens. Dann irgendwohin auf ein blühendes Kleefeld. Und endlich wieder in einer anderen Richtung nach blühenden Linden. Wer hat ihnen aber gesagt: jetzt fliegt dorthin, da gibt es etwas für euch! Und dann wieder dort, da gibt es etwas Neues! Und wer führt sie zurück nach ihrem Dorf und ihrer Zelle! Sie gehen wie an einem unsichtbaren Gängelband hierhin und dorthin; was es aber eigentlich sei, wissen wir nicht. Ebenso die Lerche. Sie steigt singend auf über einem Halmenfeld, sie schwebt über einem Meer von Halmen, das der Wind hin- und herwiegt, und wo die eine Welle aussieht wie die andere; sie fährt wieder hinab zu ihren Jungen und trifft, ohne zu fehlen, den kleinen Fleck wo sie ihr Nest hat. Alle diese äußeren Dinge liegen klar vor uns wie der Tag, aber ihr inneres geistiges Band ist uns verschlossen.« Mit dem Kuckuck, sagte ich, ist es nicht anders. Wir wissen von ihm, dass er nicht selber brütet, sondern sein Ei in das Nest irgendeines anderen Vogels legt. Wir wissen ferner dass er es legt: in das Nest der Grasemücke, der gelben Bachstelze, des Mönches; ferner in das Nest der Braunelle, in das Nest des Rotkehlchens und in das Nest des Zaunkönigs. Dieses wissen wir. Auch wissen wir gleichfalls, dass dieses alles Insekten-Vögel sind und es sein müssen, weil der Kuckuck selber ein Insekten-Vogel ist, und der junge Kuckuck von einem Samen fressenden Vogel nicht könnte erzogen werden. Woran aber erkennt der Kuckuck, dass dieses alles auch wirklich Insekten-Vögel sind? Da doch alle diese genannten, sowohl in ihrer Gestalt als in ihrer Farbe, voneinander so äußerst abweichen! - Und auch in ihrer Stimme und in ihren Locktönen so äußerst abweichen! - Und ferner: wie kommt es, dass der Kuckuck sein Ei und sein zartes Junges Nestern anvertrauen kann, die in Hinsicht auf Struktur und Temperatur, auf Trockenheit und Feuchte, so verschieden sind wie nur immer möglich! - Das Nest der Grasemücke ist von dürren Grashälmchen und einigen Pferdehaaren so leicht gebaut, dass jede Kälte eindringt und jeder Luftzug hindurchweht, auch von oben offen und ohne Schutz; aber der junge Kuckuck gedeiht darin vortrefflich. Das Nest des Zaunkönigs dagegen ist äußerlich von Moos, Halmen und Blättern dicht und fest gebaut und innen mit allerlei Wolle und Federn sorgfältig ausgefüttert, sodass kein Lüftchen hindurchdringen kann. Auch ist es oben gedeckt und gewölbt und nur eine kleine Öffnung zum Hinein- und Hinausschlüpfen des sehr kleinen Vogels gelassen. Man sollte denken, es müsste in heißen Junitagen in solcher geschlossenen Höhle eine Hitze zum Ersticken sein. Allein der junge Kuckuck gedeiht darin aufs Beste. Und wiederum wie anders ist das Nest der gelben Bachstelze! - Der Vogel lebt am Wasser, an Bächen und in allerlei Nassem. Er baut sein Nest auf feuchten Triften, in einen Büschel von Binsen. Er scharrt ein Loch in die feuchte Erde und legt es dürftig mit einigen Grashälmchen aus, sodass der junge Kuckuck durchaus im Feuchten und Kühlen gebrütet wird und heranwachsen muss. Und dennoch gedeiht er wiederum vortrefflich. Was ist das aber für ein Vogel, für den im zartesten Kindesalter Feuchtes und Trockenes, Hitze und Kälte, Abweichungen die für jeden anderen Vogel tödlich wären, durchaus gleichgültige Dinge sind. Und wie weiß der alte Kuckuck dass sie es sind, da er doch selber im erwachsenen Alter für Nässe und Kälte so sehr empfindlich ist. -
»Wir stehen hier, erwiderte Goethe, eben vor einem Geheimnis. Aber sagen Sie mir doch, wenn Sie es beobachtet haben, wie bringt der Kuckuck sein Ei in das Nest des Zaunkönigs, da es doch nur eine so geringe Öffnung hat, dass er nicht hineinkommen und er sich nicht selber darauf setzen kann.« Er legt es auf irgendeine trockene Stelle, erwiderte ich, und bringt es mit dem Schnabel hinein. Auch glaube ich, dass er nicht bloß beim Zaunkönig sondern auch bei allen übrigen Nestern so tut. Denn auch die Nester der andern Insekten-Vögel, wenn sie auch oben offen, sind doch so klein, oder so nahe von Zweigen umgeben, dass der große langschwänzige Kuckuck sich nicht darauf setzen könnte. Dies ist sehr wohl zu denken. Allein wie es kommen mag, dass der Kuckuck ein so außerordentlich kleines Ei legt, ja so klein als wäre es das Ei eines kleinen Insekten-Vogels, das ist ein neues Rätsel, das man im Stillen bewundert ohne es lösen zu können. - Das Ei des Kuckucks ist nur um ein weniges größer als das der Grasemücke, und es darf im Grunde nicht größer sein, wenn die kleinen Insekten-Vögel es brüten sollen. Dies ist durchaus gut und vernünftig. Allein dass die Natur, um im speziellen Fall weise zu sein, von einem durchgehenden großen Gesetz abweicht, wonach vom Kolibri bis zum Strauß zwischen der Größe des Eies und der Größe des Vogels ein entschiedenes Verhältnis stattfindet, dieses willkürliche Verfahren, sage ich, ist durchaus geeignet uns zu überraschen und in Erstaunen zu setzen. »Es setzt uns allerdings in Erstaunen, erwiderte Goethe, weil unser Standpunkt zu klein ist, als dass wir es übersehen könnten. Wäre uns mehr eröffnet, so würden wir auch diese scheinbaren Abweichungen wahrscheinlich im Umfange des Gesetzes finden. Doch fahren Sie fort und sagen Sie mir mehr. Weiß man denn nicht, wie viele Eier der Kuckuck legen mag?« Wer darüber etwas mit Bestimmtheit sagen wollte, antwortete ich, wäre ein großer Tor. Der Vogel ist sehr flüchtig, er ist bald hier und bald dort, man findet von ihm in einem einzigen Nest immer nur ein einziges Ei. Er legt sicherlich mehrere; allein wer weiß wo sie hingeraten und wer kann ihm nachkommen ! - Gesetzt aber er legte fünf Eier, und diese würden alle fünf glücklich ausgebrütet und von liebevollen Pflegeeltern herangezogen, so hat man wiederum zu bewundern, dass die Natur sich entschließen mag, für fünf junge Kuckucke wenigstens fünfzig Junge unserer besten Singvögel zu opfern. »In dergleichen Dingen, erwiderte Goethe, pflegt die Natur auch in anderen Fällen nicht eben skrupulös zu sein. Sie hat einen großen Etat von Leben zu vergeuden und sie tut es gelegentlich ohne sonderliches Bedenken. Wie aber kommt es, dass für einen einzigen jungen Kuckuck so viele junge Singvögel verloren gehen?« Zunächst, erwiderte ich, geht die erste Brut verloren. Denn im Fall auch die Eier des Singvogels neben dem Kuckucks-Ei, wie es wohl geschieht, mit ausgebrütet würden; so haben doch die Eltern über den entstandenen größeren Vogel eine solche Freude und für ihn eine solche Zärtlichkeit, dass sie nur an ihn denken und nur ihn füttern, worüber denn ihre eigenen kleineren Jungen zugrunde gehen und aus dem Neste verschwinden. Auch ist der junge Kuckuck immer begierig und bedarf so viel Nahrung als die kleinen Insekten-Vögel nur immer herbeischleppen können. Es dauert sehr lange ehe er seine vollständige Größe und sein vollständiges Gefieder erreicht, und ehe er fähig ist das Nest zu verlassen und sich zum Gipfel eines Baumes zu erheben. Ist er aber auch längst ausgeflogen, so verlangt er doch noch fortwährend gefüttert zu werden, sodass der ganze Sommer darüber hingeht und die liebevollen Pflegeeltern ihrem großen Kinde immer nachziehen und auch an eine zweite Brut nicht denken. Aus diesem Grunde gehen denn über einen einzigen jungen Kuckuck so viele andere junge Vögel verloren. »Das ist sehr überzeugend, erwiderte Goethe. Doch sagen Sie mir, wird denn der junge Kuckuck, sobald er ausgeflogen ist, auch von anderen Vögeln gefüttert die ihn nicht gebrütet haben? Es ist mir als hätte ich dergleichen gehört.« Es ist so, antwortete ich. Sobald der junge Kuckuck sein niederes Nest verlassen und seinen Sitz etwa in dem Gipfel einer hohen Eiche genommen hat, lässt er einen lauten Ton hören, welcher sagt dass er da sei. Nun kommen alle kleinen Vögel der Nachbarschaft, die ihn gehört haben, herbei, um ihn zu begrüßen. Es kommt die Grasemücke, es kommt der Mönch, die gelbe Bachstelze fliegt hinauf, ja der Zaunkönig, dessen Naturell es ist beständig in niederen Hecken und dichten Gebüschen zu schlüpfen, überwindet seine Natur und erhebt sich, dem geliebten Ankömmling entgegen, zum Gipfel der hohen Eiche. Das Paar aber, das ihn erzogen hat, ist mit dem Füttern treuer, während die übrigen nur gelegentlich mit einem guten Bissen herzufliegen. »Es scheint also, sagte Goethe, zwischen dem jungen Kuckuck und den kleinen Insekten-Vögeln eine große Liebe zu bestehen.« Die Liebe der kleinen Insekten-Vögel zum jungen Kuckuck, erwiderte ich, ist so groß, dass wenn man einem Neste nahe kommt, in welchem ein junger Kuckuck gehegt wird, die kleinen Pflegeeltern vor Schreck und Furcht und Sorge nicht wissen wie sie sich gebärden sollen. Besonders der Mönch drückt eine große Verzweiflung aus, sodass er fast wie in Krämpfen am Boden flattert. »Merkwürdig genug, erwiderte Goethe; aber es lässt sich denken. Allein etwas sehr problematisch erscheint mir, dass z. B. ein Grasemückenpaar, das im Begriff ist die eigenen Eier zu brüten, dem alten Kuckuck erlaubt ihrem Neste nahezukommen und sein Ei hineinzulegen.« Das ist freilich sehr rätselhaft, erwiderte ich; doch nicht so ganz. Denn eben dadurch, dass alle kleinen Insekten-Vögel den ausgeflogenen Kuckuck füttern, und dass ihn also auch die füttern, die ihn nicht gebrütet haben, dadurch entsteht und erhält sich zwischen beiden eine Art Verwandtschaft, sodass sie sich fortwährend kennen und als Glieder einer einzigen großen Familie betrachten. Ja es kann sogar kommen, dass derselbige Kuckuck, den ein paar Grasemücken im vorigen Jahre ausgebrütet und erzogen haben, ihnen in diesem Jahre sein Ei bringt. »Das lässt sich allerdings hören, erwiderte Goethe, so wenig man es auch begreift. Ein Wunder aber bleibt es mir immer, dass der junge Kuckuck auch von solchen Vögeln gefüttert wird, die ihn nicht gebrütet und erzogen.« Es ist freilich ein Wunder, erwiderte ich; doch gibt es wohl etwas Analoges. Ja ich ahne in dieser Richtung sogar ein großes Gesetz, das tief durch die ganze Natur geht. Ich hatte einen jungen Hänfling gefangen, der schon zu groß war um sich von Menschen füttern zu lassen, aber noch zu jung um alleine zu fressen. Ich gab mir mit ihm einen halben Tag viele Mühe; da er aber durchaus nichts annehmen wollte, so setzte ich ihn zu einem alten Hänfling hinein, einem guten Sänger, den ich schon seit Jahr und Tag im Käfig gehabt und der außen vor meinem Fenster hing. Ich dachte: wenn der Junge sieht wie der Alte frisst, so wird er vielleicht auch ans Futter gehen und es ihm nachmachen. Er tat aber nicht so, sondern er öffnete seinen Schnabel gegen den alten und bewegte mit bittenden Tönen die Flügel gegen ihn, worauf denn der alte Hänfling sich seiner sogleich erbarmte und ihn als Kind annahm und ihn fütterte als wäre es sein eigenes.
Ferner brachte man mir eine graue Grasemücke und drei Junge, die ich zusammen in einen großen Käfig tat und die die Alte fütterte. Am andern Tage brachte man mir zwei bereits ausgeflogene junge Nachtigallen, die ich auch zu der Grasemücke tat und die von ihr gleichfalls adoptiert und gefüttert wurden. Darauf nach einigen Tagen setzte ich noch ein Nest mit beinahe flüggen jungen Müllerchen hinein, und ferner noch ein Nest mit fünf jungen Plattmönchen. Diese alle nahm die Grasemücke an, und fütterte sie und sorgte für sie als treue Mutter. Sie hatte immer den Schnabel voll Ameiseneier und war bald in der einen Ecke des geräumigen Käfigs und bald in der andern, und wo nur immer eine hungrige Kehle sich öffnete, da war sie da. - Ja noch mehr! - Auch das eine indes herangewachsene Junge der Grasemücke fing an einige der Kleineren zu füttern, zwar noch spielend und etwas kinderhaft, aber doch schon mit entschiedenem Trieb es der trefflichen Mutter nachzutun. »Da stehen wir allerdings vor etwas Göttlichem, sagte Goethe, das mich in ein freudiges Erstaunen setzt. Wäre es wirklich, dass dieses Füttern eines Fremden als etwas allgemein Gesetzliches durch die Natur ginge, so wäre damit manches Rätsel gelöst, und man könnte mit Überzeugung sagen: dass Gott sich der verwaisten jungen Raben erbarme, die ihn anrufen.« Etwas Allgemein-Gesetzliches, erwiderte ich, scheint es allerdings zu sein; denn ich habe auch im wilden Zustande dieses hülfreiche Füttern und dieses Erbarmen gegen Verlassene beobachtet. Ich hatte im vorigen Sommer in der Nähe von Tiefurt zwei junge Zaunkönige gefangen, die wahrscheinlich erst ganz kürzlich ihr Nest verlassen hatten; denn sie saßen in einem Busch auf einem Zweig nebst sieben Geschwistern in einer Reihe und ließen sich von ihren Alten füttern. Ich nahm die beiden jungen Vögel in mein seidenes Taschentuch und ging in der Richtung nach Weimar bis ans Schießhaus, dann rechts nach der Wiese an der Ilm hinunter und an dem Badeplatz vorüber, und dann wieder links in das kleine Gehölz. Hier, dachte ich, hast du Ruhe um einmal nach deinen Zaunkönigen zu sehen. Als ich aber das Tuch öffnete, entschlüpften sie mir beide und waren sogleich im Gebüsch und Grase verschwunden, sodass mein Suchen nach ihnen vergebens war. Am dritten Tage kam ich zufällig wieder an dieselbige Stelle, und da ich die Locktöne eines Rotkehlchens hörte, so vermutete ich ein Nest in der Nähe, welches ich nach einigem Umherspähen auch wirklich fand. Wie groß aber war mein Erstaunen, als ich in diesem Nest, neben beinahe flüggen jungen Rotkehlchen, auch meine beiden jungen Zaunkönige fand, die sich hier ganz gemütlich untergetan hatten und sich von den alten Rotkehlchen füttern ließen. Ich war im hohen Grade glücklich über diesen höchst merkwürdigen Fund. Da ihr so klug seid, dachte ich bei mir selber, und euch so hübsch habt zu helfen gewusst, und da auch die guten Rotkehlchen sich eurer so hilfreich angenommen, so bin ich weit entfernt so gastfreundliche Verhältnisse zu stören, im Gegenteil wünsche ich euch das allerbeste Gedeihen. »Das ist eine der besten ornithologischen Geschichten, die mir je zu Ohren gekommen, sagte Goethe. Stoßen Sie an, Sie sollen leben, und Ihre glücklichen Beobachtungen mit! - Wer das hört und nicht an Gott glaubt, dem helfen nicht Moses und die Propheten. Das ist es nun was ich die Allgegenwart Gottes nenne, der einen Teil seiner unendlichen Liebe überall verbreitet und eingepflanzt hat, und schon im Tiere dasjenige als Knospe andeutet, was im edlen Menschen zur schönsten Blüte kommt. Fahren Sie ja in Ihren Studien und Ihren Beobachtungen fort! Sie scheinen darin ein besonderes Glück zu haben und können noch ferner zu ganz unschätzbaren Resultaten kommen.« Indes wir nun so an unserm Tische in freier Natur uns über gute und tiefe Dinge unterhielten neigte sich die Sonne den Gipfeln der westlichen Hügel zu, und Goethe fand es an der Zeit unsern Rückweg anzutreten. Wir fuhren rasch durch Jena, und nachdem wir im Bären bezahlt und noch einen kurzen Besuch bei Frommanns gemacht, ging es im scharfen Trab nach Weimar.
1) Der Gebrauch des Dativs entspricht der Originalfassung. Moldenhauer (1884) korrigierte in der von ihm herausgegebenen Ausgabe der "Gespräche" Eckermann, indem er stillschweigend den Genitiv einsetzte. Eckermann verwendet in den "Gesprächen" die Präposition "während" sowohl mit dem Genitiv als auch mit dem Dativ. So schreibt er beispielsweise einmal "während des Lesens" (15. Januar 1827) und an anderer Stelle "während dem Lesen" (18. Januar 1825). Er folgt hierin seinem Vorbild Goethe, der z. B. schrieb "denn wenn der Geist während dem Spiel darauf gerichtet sein soll ..." (Regeln für Schauspieler, § 76). Auch die Präposition "wegen" verwendete Goethe anscheinend regellos sowohl mit dem Genitiv als auch mit dem Dativ (Goethes Tagebuch, 28.9.1831: "Berliner Staatszeitung, wegen dem neulichen atmosphärischen Phänomen ..."; in einem Atemzug in Goethes Tagebuch am 16.2.1825: "wegen den Skeletten", "wegen dem Schreiben", "wegen des Geburtstags").
In der sog. "Ausgabe letzter Hand" von Goethes Werken sorgte der junge Jenaer Professor Carl Wilhelm Göttling als Korrektor "treufleißig" (Goethe) für die sprachliche Richtigkeit, wobei Goethe sich wiederholt veranlasst sah, den strengen Korrektor um Nachsicht zu bitten (z. B. 8.10.1825 und 23.12.1829). (Eckermann, Gespräche mit Goethe. Überschrift, Nummerierung, Abbildungen und Anmerkung vom Herausgeber eingefügt. Zur Authentizität der Inhalte des dritten Bandes der "Gespräche" s. den wichtigen Hinweis auf der Seite Gespräche.)
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