Goethes "Novelle":   (1) Prosa statt Versen; Komposition   (2) Interpretation; Absicht, Stilmittel, Komposition   (3) Exposition
(4) Titel; Begriff "Novelle"  (5) Wirkung der Exposition  (6) Komposition  (7) Interpretation; das "Unsichtbare", Magie der Musik

Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe

Sieben analytische Gespräche über Goethes "Novelle"

1
Prosa statt Versepos; über die Komposition
Montag Abend den 15. Januar 1827.

Nach Vollendung der "Helena" hatte Goethe sich im vergangenen Sommer zur Fortsetzung der "Wanderjahre" gewendet.
[...]

Vor mehreren Wochen hörte ich nun von seinem Sekretär, daß er an einer neuen Novelle arbeite; ich hielt mich daher abends von Besuchen zurück und begnügte mich, ihn bloß alle acht Tage bei Tisch zu sehen.

Diese Novelle war nun seit einiger Zeit vollendet, und er legte mir diesen Abend die ersten Bogen zur Ansicht vor.

Ich war beglückt und las bis zu der bedeutenden Stelle, wo alle um den toten Tiger herumstehen und der Wärtel die Nachricht bringt, daß der Löwe oben an der Ruine sich in die Sonne gelegt habe.

Während des Lesens hatte ich die außerordentliche Deutlichkeit zu bewundern, womit alle Gegenstände bis auf die kleinste Lokalität vor die Augen gebracht waren. Der Auszug zur Jagd, die Zeichnungen der alten Schloßruine, der Jahrmarkt, der Feldweg zur Ruine, alles trat entschieden vor die Anschauung, so daß man genötiget war, sich das Dargestellte gerade so zu denken, wie der Dichter es gewollt hatte. Zugleich war alles mit einer solchen Sicherheit, Besonnenheit und Herrschaft geschrieben, daß man vom Künftigen nichts vorausahnen und keine Zeile weiter blicken könnte, als man las.

«Eure Exzellenz», sagte ich, «müssen nach einem sehr bestimmten Schema gearbeitet haben.»

«Allerdings habe ich das,» antwortete Goethe; «ich wollte das Sujet schon vor dreißig Jahren ausführen, und seit der Zeit trage ich es im Kopfe. Nun ging es mir mit der Arbeit wunderlich. Damals, gleich nach "Hermann und Dorothea", wollte ich den Gegenstand in epischer Form und Hexametern behandeln und hatte auch zu diesem Zweck ein ausführliches Schema entworfen. Als ich nun jetzt das Sujet wieder vornehme, um es zu schreiben, kann ich jenes alte Schema nicht finden und bin also genötigt, ein neues zu machen, und zwar ganz gemäß der veränderten Form, die ich jetzt dem Gegenstande zu geben willens war. Nun aber nach vollendeter Arbeit findet sich jenes ältere Schema wieder, und ich freue mich nun, daß ich es nicht früher in Händen gehabt, denn es würde mich nur verwirrt haben. Die Handlung und der Gang der Entwickelung war zwar unverändert, allein im Detail war es doch ein ganz anderes; es war ganz für eine epische Behandlung in Hexametern gedacht und würde also für diese prosaische Darstellung gar nicht anwendbar gewesen sein.»

Das Gespräch lenkte sich auf den Inhalt. «Eine schöne Situation», sagte ich, «ist die, wo Honorio, der Fürstin gegenüber, am tot ausgestreckten Tiger steht, die klagende weinende Frau mit dem Knaben herzugekommen ist, und auch der Fürst mit dem Jagdgefolge zu der seltsamen Gruppe soeben herbeieilt. Das müßte ein treffliches Bild machen, und ich möchte es gemalt sehen.»

«Gewiß,» sagte Goethe, «das wäre ein schönes Bild; - doch», fuhr er nach einigem Bedenken fort, «der Gegenstand wäre fast zu reich und der Figuren zu viele, so daß die Gruppierung und Verteilung von Licht und Schatten dem Künstler sehr schwer werden würde. Allein den früheren Moment, wo Honorio auf dem Tiger kniet und die Fürstin am Pferde gegenüber steht, habe ich mir wohl als Bild gedacht; und das wäre zu machen.» Ich empfand, daß Goethe recht hatte, und fügte hinzu, daß ja dieser Moment auch eigentlich der Kern der ganzen Situation sei, worauf alles ankomme.

Noch hatte ich an dem Gelesenen zu bemerken, daß diese Novelle von allen übrigen der "Wanderjahre" einen ganz verschiedenen Charakter trage, indem darin alles Darstellung des Äußern, alles real sei. «Sie haben recht,» sagte Goethe, «Innerliches finden Sie in dem Gelesenen fast gar nicht, und in meinen übrigen Sachen ist davon fast zuviel.»

«Nun bin ich neugierig zu erfahren,» sagte ich, «wie man sich des Löwen bemeistern wird; daß dieses auf eine ganz andere Weise geschehen werde, ahne ich fast, doch das Wie ist mir gänzlich verborgen.» «Es wäre auch nicht gut, wenn Sie es ahneten,» sagte Goethe, «und ich will es Ihnen heute nicht verraten. Donnerstag Abend gebe ich Ihnen das Ende; bis dahin liegt der Löwe in der Sonne.»


(Eckermann, Gespräche mit Goethe; Überschrift und Nummerierung vom Herausgeber eingefügt)

Aktuelle Literatur
Helmuth Hinkfoth (Hg.)
Erstveröffentlichung
mit zahlreichen
Erläuterungen
Briefwechsel Goethe - Eckermann, 2017 Eckermann-Biographie, 2014
Helmuth Hinkfoth
Eckermann
Goethes
Gesprächspartner
Eine anregende Biografie
mit Einblicken in Goethes
persönliche Welt

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