Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe (8)(Über die Ehescheidung; Goethes Verhältnis zu Ludwig Tieck; die Brüder Schlegel)
Dienstag den 30. März 1824.
Abends bei Goethe. Ich war alleine mit ihm. Wir sprachen vielerlei und tranken eine Flasche Wein dazu. [...] Wir kamen [...] auf die "Wahlverwandtschaften" zu reden, und Goethe erzählte mir von einem durchreisenden Engländer, der sich scheiden lassen wolle, wenn er nach England zurückkäme. Er lachte über solche Torheit und erwähnte mehrere Beispiele von Geschiedenen, die nachher doch nicht hätten voneinander lassen können. »Der selige Reinhard in Dresden, sagte er, wunderte sich oft über mich, dass ich in Bezug auf die Ehe so strenge Grundsätze habe, während ich doch in allen übrigen Dingen so lässlich denke.« Diese Äußerung Goethes war mir aus dem Grunde merkwürdig, weil sie ganz entschieden an den Tag legt, wie er es mit jenem so oft gemissdeuteten Romane eigentlich gemeint hat. Wir sprachen darauf über Tieck und dessen persönliche Stellung zu Goethe. »Ich bin Tiecken herzlich gut, sagte Goethe, und er ist auch im Ganzen sehr gut gegen mich gesinnt; allein es ist in seinem Verhältnis zu mir doch etwas, wie es nicht sein sollte. Und zwar bin ich daran nicht schuld, und er ist es auch nicht, sondern es hat seine Ursachen anderer Art. Als nämlich die Schlegel anfingen bedeutend zu werden, war ich ihnen zu mächtig, und um mich zu balancieren, mussten sie sich nach einem Talent umsehen, das sie mir entgegenstellten. Ein solches fanden sie in Tieck, und damit er mir gegenüber in den Augen des Publikums genugsam bedeutend erscheine, so mussten sie mehr aus ihm machen, als er war. Dieses schadete unserm Verhältnis; denn Tieck kam dadurch zu mir, ohne es sich eigentlich bewusst zu werden, in eine schiefe Stellung. Tieck ist ein Talent von hoher Bedeutung und es kann seine außerordentlichen Verdienste niemand besser erkennen als ich selber; allein wenn man ihn über ihn selbst erheben und mir gleichstellen will, so ist man im Irrtum. Ich kann dieses geradeheraus sagen, denn was geht es mich an, ich habe mich nicht gemacht. Es wäre ebenso, wenn ich mich mit Shakspeare vergleichen wollte, der sich auch nicht gemacht hat, und der doch ein Wesen höherer Art ist, zu dem ich hinaufblicke und das ich zu verehren habe.« Goethe war diesen Abend besonders kräftig, heiter und aufgelegt. Er holte ein Manuskript ungedruckter Gedichte herbei, woraus er mir vorlas. Es war ein Genuss ganz einziger Art ihm zuzuhören, denn nicht allein dass die originelle Kraft und Frische der Gedichte mich in hohem Grade anregte, sondern Goethe zeigte sich auch beim Vorlesen von einer mir bisher unbekannten höchst bedeutenden Seite. Welche Mannigfaltigkeit und Kraft der Stimme! Welcher Ausdruck und welches Leben des großen Gesichtes voller Falten! Und welche Augen! (Eckermann, Gespräche mit Goethe. An den gekennzeichneten Stellen um andersthematische Inhalte gekürzt. Überschrift, Nummerierung und Anmerkungen vom Herausgeber eingefügt)
|