Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe (9)
(Goethe über Kunst, Natur und Religion, die Unsterblichkeit des Geistes, Luther und Napoleon)
Sonntag den 2. Mai 1824.
[...] Wir sprachen sodann nach flüchtiger Berührung anderer Gegenstände, über die falsche Tendenz solcher Künstler, welche die Religion zur Kunst machen wollen, während ihnen die Kunst Religion sein sollte. »Die Religion, sagte Goethe, steht in demselbigen Verhältnis zur Kunst, wie jedes andere höhere Lebensinteresse auch. Sie ist bloß als Stoff zu betrachten, der mit allen übrigen Lebens-Stoffen gleiche Rechte hat. Auch sind Glaube und Unglaube durchaus nicht diejenigen Organe, mit welchen ein Kunstwerk aufzufassen ist, vielmehr gehören dazu ganz andere menschliche Kräfte und Fähigkeiten. Die Kunst aber soll für diejenigen Organe bilden, mit denen wir sie auffassen; tut sie das nicht, so verfehlt sie ihren Zweck und geht ohne die eigentliche Wirkung an uns vorüber. Ein religiöser Stoff kann indes gleichfalls ein guter Gegenstand für die Kunst sein, jedoch nur in dem Fall, wenn er allgemein menschlich ist. Deshalb ist eine Jungfrau mit dem Kinde ein durchaus guter Gegenstand, der hundertmal behandelt worden und immer gern wieder gesehen wird.« Wir waren indes um das Gehölz, das Webicht, gefahren und bogen in der Nähe von Tiefurt in den Weg nach Weimar zurück, wo wir die untergehende Sonne im Anblick hatten. Goethe war eine Weile in Gedanken verloren, dann sprach er zu mir die Worte eines Alten: Untergehend sogar ist's immer dieselbige Sonne. »Wenn einer fünfundsiebzig Jahre alt ist, fuhr er darauf mit großer Heiterkeit fort, kann es nicht fehlen, dass er mitunter an den Tod denke. Mich lässt dieser Gedanke in völliger Ruhe, denn ich habe die feste Überzeugung, dass unser Geist ein Wesen ist ganz unzerstörbarer Natur; es ist ein fortwirkendes von Ewigkeit zu Ewigkeit. Es ist der Sonne ähnlich, die bloß unsern irdischen Augen unterzugehen scheint, die aber eigentlich nie untergeht, sondern unaufhörlich fortleuchtet.« Die Sonne war indes hinter dem Ettersberge hinabgegangen; wir spürten in dem Gehölz einige Abendkühle und fuhren desto rascher in Weimar hinein und an seinem Hause vor. Goethe bat mich, noch ein wenig mit hinaufzukommen, welches ich tat. Er war in äußerst guter, liebenswürdiger Stimmung. Er sprach darauf besonders viel über die Farbenlehre, über seine verstockten Gegner, und dass er das Bewusstsein habe, in dieser Wissenschaft etwas geleistet zu haben. »Um Epoche in der Welt zu machen, sagte er bei dieser Gelegenheit, dazu gehören bekanntlich zwei Dinge: erstens, dass man ein guter Kopf sei, und zweitens, dass man eine große Erbschaft tue. Napoleon erbte die Französische Revolution, Friedrich der Große den Schlesischen Krieg, Luther die Finsternis der Pfaffen, und mir ist der Irrtum der Newtonischen Lehre zuteil geworden. Die gegenwärtige Generation hat zwar keine Ahnung, was hierin von mir geleistet worden; doch künftige Zeiten werden gestehen, dass mir keineswegs eine schlechte Erbschaft zugefallen.« Über die Unsterblichkeit des Geistes s. a. das Gespräch v. 4.2.1829.
(Eckermann, Gespräche mit Goethe. An den gekennzeichneten Stellen um andersthematische Inhalte gekürzt. Überschrift und Nummerierung vom Herausgeber eingefügt)
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