Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe (21)
(In Jena: Goethe erzählt von seiner Freundschaft mit Schiller. Eine merkwürdige Marotte Schillers)
(Band 3)
Sonntag, den 7. Oktober 1827.
Diesen Morgen, bei sehr schönem Wetter, befand ich mich mit Goethe bereits vor acht Uhr im Wagen und auf dem Wege nach Jena, wo er bis morgen Abend zu verweilen die Absicht hatte. Dort zeitig angekommen, fuhren wir zunächst am Botanischen Garten vor, wo Goethe alle Sträucher und Gewächse in Augenschein nahm und alles in schönster Ordnung und im besten Gedeihen fand. Wir besahen ferner das mineralogische Kabinett und einige andere naturwissenschaftliche Sammlungen und fuhren darauf zu Herrn v. Knebel 1), der uns zu Tisch erwartete. Knebel, im höchsten Alter, eilte Goethen halb stolpernd an der Tür entgegen, um ihn in seine Arme zu schließen. Darauf bei Tisch ging alles sehr herzlich und munter zu; von Gesprächen jedoch entwickelte sich nichts von einiger Bedeutung. Die beiden alten Freunde hatten genug am beiderseitigen menschlich nahen Beisammensein. Nach Tisch machten wir eine Spazierfahrt in südlicher Richtung an der Saale hinauf. Ich kannte diese reizende Gegend bereits aus früherer Zeit, doch wirkte alles wieder so frisch. als hätte ich es vorher nie gesehen. Als wir uns wieder in den Straßen von Jena befanden, ließ Goethe an einem Bach hinauffahren und an einem Hause halten, das äußerlich eben kein bedeutendes Ansehen hatte. »Hier hat Voß 2) gewohnt«, sagte er, »und ich will Sie doch auch auf diesem klassischen Boden einführen.« Wir durchschritten das Haus und traten in den Garten. Von Blumen und anderer Art feiner Kultur war wenig zu spüren, wir gingen auf Rasen unter lauter Obstbäumen. »Das war etwas für Ernestine«, sagte Goethe, »die auch hier ihre trefflichen Eutiner Äpfel nicht vergessen konnte und die sie mir rühmte als etwas ohnegleichen. Es waren aber die Äpfel ihrer Kindheit gewesen - darin lag's! Ich habe übrigens hier mit Voß und seiner trefflichen Ernestine manchen schönen Tag gehabt und gedenke der alten Zeit sehr gerne. Ein Mann wie Voß wird übrigens so bald nicht wiederkommen. Es haben wenig andere auf die höhere deutsche Kultur einen solchen Einfluss gehabt als er. Es war an ihm alles gesund und derb, weshalb er auch zu den Griechen kein künstliches, sondern ein rein natürliches Verhältnis hatte, woraus denn für uns anderen die herrlichsten Früchte erwachsen sind. Wer von seinem Werte durchdrungen ist wie ich, weiß gar nicht, wie er sein Andenken würdig genug ehren soll.« Es war indes gegen sechs Uhr geworden, und Goethe fand es an der Zeit, in unser Nachtquartier zu gehen, das er im Gasthof »Zum Bären« hatte bestellen lassen. Man gab uns ein geräumiges Zimmer nebst einem Alkoven mit zwei Betten. Die Sonne war noch nicht lange hinab, der Abendschein lag auf unsern Fenstern, und es war uns gemütlich, noch eine Zeit lang ohne Licht zu sitzen. Goethe lenkte das Gespräch auf Voß zurück. »Er war mir sehr wert«, sagte er, »und ich hätte ihn gerne der Akademie und mir erhalten. Allein die Vorteile, die man ihm von Heidelberg her anbot, waren zu bedeutend, als dass wir bei unsern geringen Mitteln sie hätten aufwiegen können. Ich musste ihn mit schmerzlicher Resignation ziehen lassen.
Ein Glück für mich war es indes«, fuhr Goethe fort, »dass ich Schillern hatte. Denn so verschieden unsere beiderseitigen Naturen auch waren, so gingen doch unsere Richtungen auf eins, welches denn unser Verhältnis so innig machte, dass im Grunde keiner ohne den andern leben konnte.« Goethe erzählte mir darauf von seinem Freunde einige Anekdoten, die mir sehr charakteristisch erschienen. »Schiller war, wie sich bei seinem großartigen Charakter denken lässt«, sagte er, »ein entschiedener Feind aller hohlen Ehrenbezeigungen und aller faden Vergötterung, die man mit ihm trieb oder treiben wollte. Als Kotzebue vorhatte, eine öffentliche Demonstration zu seinem Ruhme zu veranstalten, war es ihm so zuwider, dass er vor innerem Ekel darüber fast krank wurde. Ebenso war es ihm zuwider, wenn ein Fremder sich bei ihm melden ließ. Wenn er augenblicklich behindert war, ihn zu sehen, und er ihn etwa auf den Nachmittag vier Uhr bestellte, so war in der Regel anzunehmen, dass er um die bestimmte Stunde vor lauter Apprehension krank war. Auch konnte er in solchen Fällen gelegentlich sehr ungeduldig und auch wohl grob werden. Ich war Zeuge, wie er einst einen fremden Chirurgus, der, um ihm seinen Besuch zu machen, bei ihm unangemeldet eintrat, sehr heftig anfuhr, sodass der arme Mensch, ganz verblüfft, nicht wusste, wie schnell er sich sollte zurückziehen. Wir waren, wie gesagt und wie wir alle wissen«, fuhr Goethe fort, »bei aller Gleichheit unserer Richtungen Naturen sehr verschiedener Art, und zwar nicht bloß in geistigen Dingen, sondern auch in physischen. Eine Luft, die Schillern wohltätig war, wirkte auf mich wie Gift. Ich besuchte ihn eines Tages, und da ich ihn nicht zu Hause fand und seine Frau mir sagte, dass er bald zurückkommen würde, so setzte ich mich an seinen Arbeitstisch, um mir dieses und jenes zu notieren. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich von einem heimlichen Übelbefinden mich überschlichen fühlte, welches sich nach und nach steigerte, sodass ich endlich einer Ohnmacht nahe war. Ich wusste anfänglich nicht, welcher Ursache ich diesen elenden, mir ganz ungewöhnlichen Zustand zuschreiben sollte, bis ich endlich bemerkte, dass aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch strömte. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, dass sie voll fauler Äpfel war. Ich trat sogleich an ein Fenster und schöpfte frische Luft, worauf ich mich denn augenblicklich wiederhergestellt fühlte. Indes war seine Frau wieder hereingetreten, die mir sagte, dass die Schieblade immer mit faulen Äpfeln gefüllt sein müsse, indem dieser Geruch Schillern wohl tue und er ohne ihn nicht leben und arbeiten könne. Morgen früh«, fuhr Goethe fort, »will ich Ihnen auch zeigen, wo Schiller hier in Jena gewohnt hat.« Es war indes Licht gebracht, wir nahmen ein kleines Abendessen und saßen nachher noch eine Weile in allerlei Erinnerungen und Gesprächen.
1) Carl Ludwig von Knebel, 1744−1834, Erzieher des zweiten Sohnes der Herzogin Anna Amalia, des Prinzen Constantin, am Weimarer Hof; einer der wenigen Duz-Freunde Goethes
(Eckermann, Gespräche mit Goethe, Bd. 3 (1848). An gekennzeichneter Stelle wegen mangelnder Authentizität gekürzt. Derlei Zurückhaltung ist auch hinsichtlich der o. a. Apfel-Anekdote über Schiller und ihrer Quelle geboten. Überschrift, Nummerierung und Anmerkungen vom Herausgeber eingefügt)
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