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Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe (19)

(Goethes Verhältnis zu Immanuel Kant)
Mittwoch den 11. April 1827. (II)

Ich ging diesen Mittag um ein Uhr zu Goethe, der mich vor Tisch zu einer Spazierfahrt hatte einladen lassen. Wir fuhren die Straße nach Erfurt. Das Wetter war schön, die Kornfelder zu beiden Seiten des Weges erquickten das Auge mit dem lebhaftesten Grün; Goethe schien in seinen Empfindungen heiter und jung wie der beginnende Lenz, in seinen Worten aber alt an Weisheit.
[...]1)

Immanuel Kant
Immanuel Kant
(1724 - 1804)

Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philosophen er für den vorzüglichsten halte.

»Kant«, sagte er, »ist der vorzüglichste, ohne allen Zweifel. Er ist auch derjenige, dessen Lehre sich fortwirkend erwiesen hat, und die in unsere deutsche Kultur am tiefsten eingedrungen ist. Er hat auch auf Sie gewirkt, ohne dass Sie ihn gelesen haben. Jetzt brauchen Sie ihn nicht mehr, denn was er Ihnen geben konnte, besitzen Sie schon. Wenn Sie einmal später etwas von ihm lesen wollen, so empfehle ich Ihnen seine "Kritik der Urteilskraft", worin er die Rhetorik vortrefflich, die Poesie leidlich, die bildende Kunst aber unzulänglich behandelt hat.«

»Haben Eure Exzellenz je zu Kant ein persönliches Verhältnis gehabt?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Goethe. »Kant hat nie von mir Notiz genommen, wiewohl ich aus eigener Natur einen ähnlichen Weg ging als er. Meine "Metamorphose der Pflanzen" habe ich geschrieben, ehe ich etwas von Kant wusste, und doch ist sie ganz im Sinne seiner Lehre. Die Unterscheidung des Subjekts vom Objekt und ferner die Ansicht, dass jedes Geschöpf um seiner selbst willen existiert und nicht etwa der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, dieses hatte Kant mit mir gemein, und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen. Später schrieb ich die Lehre vom Versuch, welche als Kritik von Subjekt und Objekt und als Vermittlung von beiden anzusehen ist.

Schiller pflegte mir immer das Studium der Kantischen Philosophie zu widerraten. Er sagte gewöhnlich, Kant könne mir nichts geben. Er selbst studierte ihn dagegen eifrig, und ich habe ihn auch studiert, und zwar nicht ohne Gewinn.«

Unter diesen Gesprächen gingen wir im Garten auf und ab. Die Wolken hatten sich indes verdichtet, und es fing an zu tröpfeln, sodass wir genötiget waren, uns in das Haus zurückzuziehen, wo wir denn unsere Unterhaltungen noch eine Weile fortsetzten.

Helmuth Hinkfoth
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1) Eckermann, Gespräche mit Goethe. Überschrift, Nummerierung und Abbildung vom Herausgeber eingefügt. Der Text wurde an der gekennzeichneten Stelle erheblich gekürzt (s. dazu Teil I, Gespräch 18). Thematisch geht es darin nicht um Kant. Die Ausführungen zu Kant sind von der Kürzung nicht betroffen.
Am 1. September 1829 kam das Gespräch erneut auf Kant. Dabei ging es um «die Natur Gottes, die Unsterblichkeit, das Wesen unserer Seele und ihr Zusammenhang mit dem Körper, ewige Probleme, worin uns die Philosophen nicht weiter bringen.» Unter kritischer Bezugnahme auf die Philosophie, von deren Vertretern namentlich Hegel und Fichte erwähnt wurden, sagte Goethe zu Eckermann: «Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei, und dass er die unauflöslichen Probleme liegen ließ.»
Zu Goethe und Hegel s. a. die Unterhaltungen vom 18.10.1827, 4.2.1829 und 1.9.1829 (hierin auch Erwähnung Fichtes).

Aktuelle Literatur
Goethe über Kant
Helmuth Hinkfoth (Hg.)
Am Abend ein Stündchen
bei Goethe
Poesie und Prosa
Johann Peter Eckermanns
Eckermann-Anthologie Eckermann-Biographie, 2014
Eine anregende Biografie
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Das Lebensbild eines ungewöhnlichen Menschen
Erstveröffentlichung: Goethes Briefwechsel mit Eckermann, hg. von Helmuth Hinkfoth, September 2017.  Mehr ...

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