Johann Peter Eckermann − Gespräche mit GoetheSieben analytische Gespräche über Goethes "Novelle"4
Ursprung des Titels; Novelle als "eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit"
Donnerstag Abend den 29. Januar 1827.
Begleitet von dem Manuskript der Novelle und einer Ausgabe des Béranger ging ich gegen sieben Uhr zu Goethe. [...] »Nun,« fuhr Goethe fort, »wie steht es mit der Novelle?« ? »Ich habe sie mitgebracht«, sagte ich. »Nachdem ich sie nochmals gelesen, finde ich, daß Eure Exzellenz die intendierte Änderung nicht machen dürfen. Es tut gar gute Wirkung, wenn die Leute beim getöteten Tiger zuerst als durchaus fremde neue Wesen mit ihren abweichenden wunderlichen Kleidungen und Manieren hervortreten und sich als Besitzer der Tiere ankündigen. Brächten Sie sie aber schon früher, in der Exposition, so würde diese Wirkung gänzlich geschwächt, ja vernichtet werden.« »Sie haben recht,« sagte Goethe, »ich muß es lassen, wie es ist. Ohne Frage, Sie haben ganz recht. Es muß auch beim ersten Entwurf in mir gelegen haben, die Leute nicht früher zu bringen, eben weil ich sie ausgelassen. Diese intendierte Änderung war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem Fehler verleitet worden. Es ist aber dieses ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.« Es kam sodann zur Sprache, welchen Titel man der Novelle geben solle; wir taten manche Vorschläge, einige waren gut für den Anfang, andere für das Ende, doch fand sich keiner, der für das Ganze passend und also der rechte gewesen wäre. »Wissen Sie was,« sagte Goethe, »wir wollen es die "Novelle" nennen; denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen. In jenem ursprünglichen Sinne einer unerhörten Begebenheit kommt auch die Novelle in den "Wahlverwandtschaften" vor.« [...] (Eckermann, Gespräche mit Goethe; Überschrift und Nummerierung vom Herausgeber eingefügt)
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