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Johann Peter Eckermann − Gespräche mit Goethe (17)

(Differenzen zwischen Schiller und Goethe über das Ideal der Freiheit)
Donnerstag Abend den 18. Januar 1827.

Auf diesen Abend hatte Goethe mir den Schluss der Novelle versprochen. Ich ging halb sieben Uhr zu ihm und fand ihn in seiner traulichen Arbeitsstube allein. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch und nachdem wir die nächsten Tagesereignisse besprochen hatten, stand Goethe auf und gab mir die erwünschten letzten Bogen.
[...]

Das Gespräch lenkte sich nun ganz auf Schiller, und Goethe fuhr folgendermaßen fort:

»Schillers eigentliche Produktivität lag im Idealen, und es lässt sich sagen, dass er so wenig in der deutschen als einer andern Literatur seinesgleichen hat. Von Lord Byron hat er noch das meiste; doch dieser ist ihm an Welt überlegen. Ich hätte gerne gesehen, dass Schiller den Lord Byron erlebt hätte, und da hätt' es mich wundern sollen, was er zu einem so verwandten Geiste würde gesagt haben. Ob wohl Byron bei Schillers Leben schon etwas publiziert hat?«

Ich zweifelte, konnte es aber nicht mit Gewissheit sagen. Goethe nahm daher das Konversations-Lexikon und las den Artikel über Byron vor, wobei er nicht fehlen ließ, manche flüchtige Bemerkung einzuschalten. Es fand sich, dass Lord Byron vor 1807 nichts hatte drucken lassen, und dass also Schiller nichts von ihm gesehen.

»Durch Schillers alle Werke, fuhr Goethe fort, geht die Idee von Freiheit, und diese Idee nahm eine andere Gestalt an, sowie Schiller in seiner Kultur weiter ging und selbst ein anderer wurde. In seiner Jugend war es die physische Freiheit, die ihm zu schaffen machte und die in seine Dichtungen überging; in seinem spätern Leben die ideelle.

Es ist mit der Freiheit ein wunderlich Ding und jeder hat leicht genug, wenn er sich nur zu begnügen und zu finden weiß. Und was hilft uns ein Überfluss von Freiheit, die wir nicht gebrauchen können! Sehen Sie dieses Zimmer und diese angrenzende Kammer, in der Sie durch die offene Tür mein Bette sehen, beide sind nicht groß, sie sind ohnedies durch vielerlei Bedarf, Bücher, Manuskripte und Kunstsachen eingeengt, aber sie sind mir genug, ich habe den ganzen Winter darin gewohnt und meine vorderen Zimmer fast nicht betreten. Was habe ich nun von meinem geräumigen Hause gehabt und von der Freiheit, von einem Zimmer ins andere zu gehen, da ich nicht das Bedürfnis hatte, sie zu benutzen!

Hat einer nur so viel Freiheit, um gesund zu leben und sein Gewerbe zu treiben, so hat er genug, und so viel hat leicht ein jeder. Und dann sind wir alle nur frei unter gewissen Bedingungen, die wir erfüllen müssen. Der Bürger ist so frei wie der Adelige, sobald er sich in den Grenzen hält, die ihm von Gott durch seinen Stand, worin er geboren, angewiesen. Der Adelige ist so frei wie der Fürst; denn wenn er bei Hofe nur das wenige Zeremoniell beobachtet, so darf er sich als seinesgleichen fühlen. Nicht das macht frei, dass wir nichts über uns anerkennen wollen, sondern eben dass wir etwas verehren, das über uns ist. Denn indem wir es verehren, heben wir uns zu ihm hinauf und legen durch unsere Anerkennung an den Tag, dass wir selber das Höhere in uns tragen und wert sind, seinesgleichen zu sein. Ich bin bei meinen Reisen oft auf norddeutsche Kaufleute gestoßen, welche glaubten meinesgleichen zu sein, wenn sie sich roh zu mir an den Tisch setzten. Dadurch waren sie es nicht, allein sie wären es gewesen, wenn sie mich hätten zu schätzen und zu behandeln gewusst.

Dass nun diese physische Freiheit Schillern in seiner Jugend so viel zu schaffen machte, lag zwar teils in der Natur seines Geistes, größernteils aber schrieb es sich von dem Drucke her, den er in der Militärschule hatte leiden müssen.

Dann aber in seinem reiferen Leben, wo er der physischen Freiheit genug hatte, ging er zur ideellen über, und ich möchte fast sagen, dass diese Idee ihn getötet hat; denn er machte dadurch Anforderungen an seine physische Natur, die für seine Kräfte zu gewaltsam waren.

Der Großherzog bestimmte Schillern bei seiner Hieherkunft einen Gehalt von jährlich tausend Talern und erbot sich, ihm das Doppelte zu geben, im Fall er durch Krankheit verhindert sein sollte, zu arbeiten. Schiller lehnte dieses letzte Anerbieten ab und machte nie davon Gebrauch. ›Ich habe das Talent, sagte er, und muss mir selber helfen können.‹ Nun aber, bei seiner vergrößerten Familie in den letzten Jahren, musste er der Existenz wegen jährlich zwei Stücke schreiben, und um dieses zu vollbringen, trieb er sich, auch an solchen Tagen und Wochen zu arbeiten, in denen er nicht wohl war; sein Talent sollte ihm zu jeder Stunde gehorchen und zu Gebote stehen.

Schiller hat nie viel getrunken, er war sehr mäßig; aber in solchen Augenblicken körperlicher Schwäche suchte er seine Kräfte durch etwas Likör oder ähnliches Spirituoses zu steigern. Dies aber zehrte an seiner Gesundheit und war auch den Produktionen selbst schädlich.

Denn was gescheite Köpfe an seinen Sachen aussetzen, leite ich aus dieser Quelle her. Alle solche Stellen, von denen sie sagen, dass sie nicht just sind, möchte ich pathologische Stellen nennen, indem er sie nämlich an solchen Tagen geschrieben hat, wo es ihm an Kräften fehlte, um die rechten und wahren Motive zu finden. Ich habe vor dem kategorischen Imperativ allen Respekt, ich weiß, wie viel Gutes aus ihm hervorgehen kann, allein man muss es damit nicht zu weit treiben, denn sonst führet diese Idee der ideellen Freiheit sicher zu nichts Gutem.«

Unter diesen interessanten Äußerungen und ähnlichen Gesprächen über Lord Byron und berühmte deutsche Literatoren, von denen Schiller gesagt, dass Kotzebue ihm lieber, weil er doch etwas hervorbringe, waren die Abendstunden schnell vorübergegangen, und Goethe gab mir die Novelle mit, um sie für mich zu Hause nochmals in der Stille zu betrachten.



(Eckermann, Gespräche mit Goethe. An der gekennzeichneten Stelle um andersthematische Inhalte gekürzt. Überschrift und Nummerierung vom Herausgeber eingefügt.)
Goethe über Schiller: s. a. die Gespräche 3, 10, 13, 21 und 22.

Literatur
Eckermann-Anthologie
Goethe über Schiller in den "Gesprächen mit Goethe":
Helmuth Hinkfoth (Hg.)
Am Abend ein Stündchen
bei Goethe
Poesie und Prosa
Johann Peter Eckermanns
Eckermann-Biographie, 2014
Eine anregende Biografie
über einen ungewöhnlichen
Menschen
Helmuth Hinkfoth
Eckermann
Goethes Gesprächspartner

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